Was sind „Winglets“ – und warum liebst oder hasst du sie?

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Wenn du dir zwei Bilder nebeneinander legst – etwa einen MotoGP-Boliden aus der Ära Casey Stoner um 2010 und dann einen aktuellen Werksprototypen aus der Saison 2025 – merkst du sofort, dass du eigentlich zwei verschiedene Welten vergleichst. Damals sah ein Rennmotorrad aus wie eine logische Weiterentwicklung der 990er- und 800er-Generation: klare Linien, runde Übergänge, eine Verkleidung, die eher den Luftstrom glättete als ihn aktiv zu formen. Heute wirken diese Maschinen fast nostalgisch schlicht. Die Motorräder der Gegenwart hingegen sind scharf gezeichnet, voller kleiner Kanten, Tunnel, Finnen und aerodynamischer Auswüchse, die du auf den ersten Blick gar nicht vollständig erfassen kannst. Was aussieht wie Science-Fiction, ist das Resultat jahrelanger Entwicklung – und einer technischen Schlacht, die sich im Hintergrund abspielt.

In den vergangenen zehn Jahren hat kaum ein Bereich der MotoGP die Dynamik und Bedeutung der Aerodynamik erreicht. Die Motoren wurden stärker, die Elektronik präziser, die Reifen sensibler – und genau dadurch entstand ein neues Problem: Zu viel Leistung für zu wenig Kontaktfläche. Ein MotoGP-Motorrad hat heute knapp 300 PS, und jedes Mal, wenn der Fahrer den Gasgriff öffnet, droht das Vorderrad zu steigen. Früher übernahm die Elektronik die Kontrolle – Anti-Wheelie, Traktionskontrolle, Motorkennfeld –, aber jede elektronische Korrektur kostet Beschleunigung. Du „verschenkst“ Zeit, weil das System Leistung wegregelt, um die Maschine stabil zu halten.

Winglets greifen an dem Punkt ein, an dem die Elektronik an ihre natürlichen Grenzen kommt. Sie erzeugen Anpressdruck, drücken das Motorrad in den Asphalt und halten die Front stabil – nicht, indem sie Leistung wegnehmen, sondern indem sie zusätzliche physikalische Stabilität liefern. Das klingt simpel, ist aber hochkomplex. Es bedeutet, dass Ingenieure inzwischen nicht nur Leistung und Fahrwerk optimieren, sondern eben auch Luftkanäle, Druckzonen und Strömungsphysik. Die MotoGP bewegt sich dadurch immer weiter in Richtung „Formel 1 auf zwei Rädern“.

Doch genau hier beginnt die Kontroverse. Winglets sind technisch brillant, aber sie verändern nicht nur das Fahrverhalten des Motorrads, sondern auch die Dynamik eines Rennens. Sie machen das Motorrad schneller, sicherer und stabiler – zumindest für denjenigen, der vorne fährt. Für den, der jagt, wird es dagegen schwieriger: mehr Turbulenzen, mehr Unruhe in der Front, höhere Reifentemperaturen im Windschatten. Und für Fans stellt sich die Frage: Wollen wir Motorräder, die aussehen wie Kampfjets und sich auch so verhalten? Oder geht dadurch ein Teil des ursprünglichen Charakters verloren?

Winglets sind damit weder reiner Fortschritt noch reines Problem. Sie sind beides. Sie stehen für den Triumph moderner Ingenieurskunst, aber genauso für eine Entwicklung, die den Rennsport komplexer und umstrittener macht. Und genau deshalb lohnt es sich, tiefer einzutauchen – denn ohne ein Verständnis dieser Aerodynamik-Revolution versteht man die heutige MotoGP nur zur Hälfte.

Die Physik: Das umgekehrte Flugzeug

Bevor du verstehst, warum Winglets heute unverzichtbar geworden sind, musst du dir das Grundproblem moderner MotoGP-Maschinen klar machen: Diese Prototypen beschleunigen so brutal, dass selbst kleinste Gasöffnungen enorme Kräfte freisetzen. Ein aktuelles MotoGP-Motorrad stemmt dich mit über 1 g Beschleunigung nach hinten – und der natürliche Reflex des Motorrads ist es, das Vorderrad anzuheben. Nicht, weil es „will“, sondern weil Physik nun mal keine Ausnahmen macht, wenn 300 PS über eine hauchdünne Kontaktfläche auf den Asphalt losgelassen werden.

Natürlich gibt es dafür elektronische Systeme. Das Anti-Wheelie-System erkennt über Neigungssensoren, IMU und Drehzahldifferenzen, wenn das Motorrad beginnt, sich aufzubäumen, und nimmt Leistung weg. Das klingt sinnvoll, ist aber ein Kompromiss. Die Elektronik dämpft das Problem, aber sie löst es nicht. Und jedes Eingreifen bedeutet, dass du nicht die volle Motorleistung nutzen kannst. In einem Sport, in dem Tausendstelsekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden, kann das der Unterschied sein.

Genau an dieser Stelle kommen Winglets ins Spiel. Stell dir einen Flugzeugflügel vor: Er erzeugt Auftrieb, weil die Luft über und unter ihm unterschiedlich strömt. Drehst du diesen Flügel um, passiert das Gegenteil. Statt abzuheben, drückt der Flügel nach unten. Das ist Downforce – Anpressdruck. Und genau diesen Effekt nutzen die Ingenieure in der MotoGP, um die Vorderräder am Boden zu halten, ohne der Elektronik das Kommando zu übergeben.

Wie viel das ausmacht, lässt sich messen: Bei Höchstgeschwindigkeit drücken moderne Winglets 50 bis 60 Kilo zusätzliche Last – manche Konstruktionen sogar noch mehr – auf die Front. Das ist, als würdest du bei voller Fahrt einen schweren Reisekoffer auf den Tank schnallen, nur dass dieser „Koffer“ aus Luft besteht. Du kannst also voll beschleunigen, ohne dass das Motorrad das Gleichgewicht verliert. Die Elektronik greift später und seltener ein, und du bekommst bei der Beschleunigung eine viel direktere, sauberere Leistungsentfaltung.

Doch Downforce hilft dir nicht nur beim Sprint vom Scheitelpunkt zum Kurvenausgang. Beim Bremsen profitiert das Motorrad genauso. Wenn du von 300 km/h auf vielleicht 90 km/h herunterbremst, brauchst du maximale Stabilität an der Front, um die Gabel kontrolliert eintauchen zu lassen und die Bremskraft präzise zu dosieren. Der zusätzliche Anpressdruck sorgt dafür, dass der Vorderreifen länger im optimalen Haftungsfenster bleibt. Das Motorrad bleibt ruhiger, besonders in der ersten Phase des Bremsens, wenn die Kräfte am größten sind.

In Kurven spielt die Aerodynamik ebenfalls eine Rolle – und zwar stärker, als die meisten Zuschauer vermuten. Viele moderne Aero-Pakete sind so konstruiert, dass sie im hohen Schräglagenbereich einen seitlichen „Saugeffekt“ erzeugen. Das ähnelt dem Ground Effect aus der Formel 1: Je schneller du fährst, desto stärker wird das Motorrad in die Straße gedrückt. Das reduziert Mikrorutscher, stabilisiert den Übergang von Einlenk- zu Scheitelpunkt und verkleinert das Risiko, dass das Vorderrad bei maximaler Schräglage weggeht.

Kurz gesagt: Winglets ersetzen nicht den Fahrer, aber sie verändern die Kräfteverteilung am Motorrad so massiv, dass du ein stabileres, kontrollierbareres, effizienteres Motorrad bekommst – und zwar in jeder Phase einer Runde. Ohne sie wäre die heute gefahrene Kombination aus Geschwindigkeit, Leistung und Reifenphysik praktisch nicht mehr beherrschbar.

Die Evolution: Vom „Schnurrbart“ zum „Stegosaurus“

Wenn du heute ein MotoGP-Motorrad anschaust, wirkt es wie ein Produkt aus dem Windkanal eines Raumfahrtlabors. Aber der Weg dorthin begann überraschend unscheinbar. Als Ducati 2015 die ersten Winglets präsentierte, schienen sie eher wie ein kurioses Zusatzteil als wie ein ernstzunehmender Technologievorsprung. Zwei kleine, seitlich sitzende Carbon-Flügel – kaum größer als ein paar Finger – sorgten schnell für Spott. Fahrer und Fans tauften sie „Schnurrbart“, und im Fahrerlager hörte man damals oft, Ducati suche wieder einmal nach einem Trick, den keiner wirklich brauche.

Doch die Ingenieure aus Bologna blieben unbeirrt. Sie testeten, modifizierten und kombinierten verschiedene Formen, bis erste Telemetriedaten bestätigten, dass die Aerodynamik nicht nur wirkt, sondern reproduzierbar Vorteile bringt. Plötzlich war klar: Das war kein technisches Gimmick, sondern ein Türöffner. Und damit begann das Wettrüsten.

In den folgenden Jahren wurden die Flügel nicht nur größer, sondern auch funktionaler. Aus kleinen Seitenteilen wurden fest verschraubte Front-Winglets, die direkt in die Verkleidung integriert waren. Der Fokus lag jetzt darauf, möglichst viel Anpressdruck zu erzeugen, ohne zu große Strömungsbremsen zu produzieren. Jedes Team versuchte, eine eigene aerodynamische Handschrift zu entwickeln, und die Motorräder begannen, sich optisch immer weiter voneinander zu entfernen.

Gleichzeitig erkannten die Ingenieure andere Zonen, in denen sich die Luft kontrollieren ließ. An der Gabel tauchten kleine Spoiler auf, die den Luftstrom vor den Bremsen stabilisierten. Am Unterboden entstanden Luftkanäle, die den Motor effizienter kühlen und bei Schräglage kontrolliert Luft seitlich ableiten sollten. Am Hinterrad entdeckte Ducati erneut ein neues Spielfeld: den legendären „Löffel“. Offiziell ein Reifen-Kühldukt, inoffiziell aber gleichzeitig ein Downforce-Generator, der die Schwinge beruhigte. Die FIM prüfte, ließ es durch – und schon hatten alle Teams ihre eigene Interpretation des Löffels.

Die Evolution endete aber nicht dort. Ab 2022 wurden Aero-Pakete so komplex, dass Fans erstmals von „Mini-Flugzeugen“ sprachen. Und 2024/2025 erreichte die Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt: die Heck-Finnen, spitz, steil und in Reihen angeordnet. Diese „Stegosaurus-Platten“ stabilisieren das Motorrad bei extremen Verzögerungen und sollen in schnellen Richtungswechseln ein Aufschaukeln verhindern. Optisch sind sie imposant, technisch hochsensibel – ein kleiner Unfall genügt, und ganze Teile brechen kontrolliert ab, wie es das Reglement verlangt.

Heute, in der Saison 2025, gibt es kein Team mehr, das ohne ein durchdachtes Aero-Paket konkurrenzfähig ist. Selbst die traditionellen Hersteller, die jahrelang zögerten oder die Aero-Diskussion als kurzfristigen Trend abtaten, haben längst eigene Windkanalprogramme, CFD-Cluster und Aero-Spezialisten an Bord. Ein MotoGP-Motorrad ohne Winglets ist inzwischen eine historische Erinnerung. Moderne Prototypen sind fahrende Aerodynamik-Labore – und die Evolution ist noch lange nicht vorbei.

Warum die Teams sie lieben

Wenn du im MotoGP-Fahrerlager herumfragst, warum Aerodynamik mittlerweile so heilig ist, bekommst du immer wieder dieselben Kernargumente. Und je mehr du dich mit den Daten beschäftigst, desto klarer wird dir, warum keine Mannschaft auf Winglets verzichten will.

Der größte Vorteil zeigt sich beim Beschleunigen. Ohne Winglets arbeitet die Elektronik ständig gegen die Physik: Das Anti-Wheelie-System greift ein, nimmt Leistung weg, reduziert das Motormoment und sorgt damit für Stabilität – aber eben auch für verlorene Meter. Mit Winglets verändert sich das komplett. Die zusätzliche Anpresskraft hält das Vorderrad am Boden, ohne dass du künstlich gedrosselt wirst. Du kannst den Gasgriff früher und länger voll aufziehen, und die Elektronik bleibt im Hintergrund. Für die Rundenzeit ist das pures Gold.

Auch beim Bremsen spürst du den Aero-Effekt deutlich. Wenn du mit 300 km/h auf eine harte Bremszone zufliegst, entscheidet jede kleine Stabilität darüber, ob du den Scheitelpunkt triffst oder weit gehst. Der zusätzliche Druck auf der Front verhindert ein unruhiges Eintauchen der Gabel, stabilisiert das Motorrad in der ersten Bremsphase und erlaubt dir, die Bremse sauber bis in die Kurve hinein zu ziehen. Die Teams sprechen oft von „Bremsvertrauen“ – und genau das liefern die Winglets.

In Kurven wirkt Aerodynamik subtiler, aber nicht weniger entscheidend. Je stärker die Schräglage, desto präziser reagieren moderne Aeroformen – besonders die seitlichen Verkleidungselemente, die wie kleine Ground-Effect-Flächen funktionieren. Sie drücken das Motorrad in Richtung Asphalt, erhöhen die Seitenführung der Reifen und geben dir ein ruhigeres Gefühl, wenn du am absoluten Limit fährst. Das bedeutet weniger Mikro-Rutscher, weniger unerwartete Bewegungen der Front und vor allem: höhere Kurvengeschwindigkeit.

Teams lieben Winglets aber nicht nur wegen einzelner Vorteile, sondern wegen ihrer Summe. Ein MotoGP-Motorrad fährt heute keine einzige Phase einer Runde ohne aerodynamische Unterstützung: nicht beim Start, nicht auf der Geraden, nicht beim Bremsen, nicht im schnellen Wechsel von rechts nach links. Überall greifen die Aero-Elemente ein, dämpfen, stabilisieren, verbessern den Grip oder erzeugen exakt die Balance, die ein Fahrer braucht, um ans Limit zu gehen.

Und am Ende zählt das, was seit jeher die ultimative Währung im Rennsport ist: die Stoppuhr. Auf einer fliegenden Runde bringt dir die perfekte Aero-Balance Zehntel um Zehntel. Ein Motorrad ohne funktionierende Winglets wäre im heutigen Feld sofort chancenlos. Deshalb baut jedes Team mehr Windkanalstunden, mehr CFD-Simulationen und mehr Aero-Pakete denn je. Winglets sind keine Mode – sie sind ein entscheidender Grund dafür, dass die Rundenzeiten der modernen MotoGP so unfassbar schnell sind.

Warum Fahrer und Fans sie hassen

Bis hierhin klingen Winglets wie ein technisches Wunderwerk. Doch für viele Fahrer – und überraschend viele Fans – ist Aerodynamik genau der Punkt, an dem sich der moderne Rennsport von dem entfernt, was sie ursprünglich geliebt haben. Und die Kritik ist nicht emotionaler Natur, sondern technisch begründet.

Das größte Problem trägt einen unscheinbaren Namen: Dirty Air (verwirbelte Luft). Hinter einem Motorrad mit ausgeprägten Winglets entsteht kein sauberer, gleichmäßiger Luftstrom, sondern ein turbulenter Wirbelmix aus Druckschwankungen, verwirbelten Strömungsfahnen und kleineren Unterdrucktaschen. Wenn du im Windschatten fährst, trifft dich dieser chaotische Luftstrom wie eine unsichtbare Wand. Die Front beginnt zu zittern, das Motorrad wird unruhig, die Trägheit im Lenkkopf steigt, und das fein abgestimmte Gefühl für die Vorderachse verschwindet fast schlagartig.

Für den Fahrer bedeutet das: Du musst stärker gegenhalten, früher bremsen und mehr Risiko eingehen, um überhaupt in den Angriffsbereich zu kommen. Das kostet nicht nur Zeit, sondern auch Vertrauen. Viele Piloten beschreiben Dirty Air als „Fahren im Nebel bei 250 km/h“ – du spürst weniger, siehst weniger Linien und fühlst dich nicht mehr sicher genug, um ein spätes Bremsmanöver zu setzen.

Damit hängt ein zweites Problem direkt zusammen: Überholen wird deutlich schwieriger. Wenn du durch die turbulente Luft später einlenken musst und die Reifen an der Vorderachse schneller überhitzen, verpasst du den Moment, in dem du den Gegner attackieren könntest. Besonders der Vorderreifen reagiert empfindlich. Je näher du dran bleibst, desto weniger kühlt er aus, und desto schneller steigt der Druck im Reifen. Ein Vorderreifen, der statt der erlaubten 1,88 bar plötzlich 2,1 bar erreicht, verliert so viel Haftung, dass selbst ein schneller Fahrer keine echte Chance mehr hat. Genau deswegen sieht man in der heutigen MotoGP oft Züge von Fahrern, die zwar schneller könnten, aber im verwirbelten Luftstrom regelrecht „eingesperrt“ sind.

Dann kommt ein emotionales Thema: die Optik. Viele Fans – und vor allem Veteranen – sehen Winglets als Stilbruch. Rennmotorräder waren jahrzehntelang schlanke, klare Maschinen mit einer Ästhetik, die aus Funktion geboren war. Heute wirkt vieles wie gewollt und überdesignt, fast schon künstlich. Kommentare wie „Das sieht nicht mehr nach Motorrad aus, sondern nach Drohne“ hört man in Fan-Foren immer wieder. Diese Kritik ist natürlich subjektiv, aber sie existiert – und sie ist laut.

Ein weiterer Punkt betrifft die Sicherheit. Auch wenn die Winglets laut Reglement so konstruiert sein müssen, dass sie bei einem Kontakt abbrechen, bleibt ein Restrisiko. Auf engen Strecken oder bei Startsituationen, in denen Maschinen dicht an dicht stehen, kann selbst ein kleiner Aerodynamikflügel zur Gefahr werden. Die Kombination aus Carbon, Geschwindigkeit, scharfen Kanten und engem Abstand ist nicht ideal. Piloten wissen das – und fahren entsprechend vorsichtig, was wiederum das Rennen beeinflusst.

All diese Aspekte führen zu einer einfachen, aber wichtigen Wahrheit: Winglets machen Motorräder objektiv schneller, aber sie machen das Rennen gleichzeitig komplizierter. Sie verändern, wie eng die Fahrer kämpfen können, wie sich Zweikämpfe entwickeln, und wie nah du überhaupt an einen Gegner herankommst. Nicht jeder ist bereit, diesen Preis für die zusätzliche Leistung zu bezahlen.

Die Zukunft: Das Regelwerk 2027

Dass die Aerodynamik in den vergangenen Jahren außer Kontrolle geraten ist, siehst du längst nicht nur auf der Strecke. Auch die Regelhüter haben erkannt, dass sie handeln müssen, bevor die MotoGP denselben Weg geht wie die Formel 1 in ihren extremen Aero-Phasen. Ab der Saison 2027 tritt deshalb ein deutlich verschärftes Regelwerk in Kraft – und es wird das Gesicht der MotoGP verändern.

Der erste große Eingriff betrifft die Frontverkleidung. Der maximale Bauraum wird reduziert: Die Verkleidung wird schmaler, flacher und insgesamt weniger „aggressiv“ erlaubt sein. Damit soll verhindert werden, dass Teams riesige Front-Winglets bauen, die enorme Downforce erzeugen, aber gleichzeitig massive Turbulenzen hinter dem Motorrad verursachen. Du wirst also weiterhin Flügel sehen, aber sie werden kompakter, weniger komplex und viel stärker auf Sicherheit getrimmt sein.

Noch drastischer sind die Einschränkungen am Heck. Viele der aktuellen Lösungen – insbesondere die markanten Heck-Finnen, die wie Stegosaurus-Platten wirken – werden entweder komplett verboten oder streng limitiert. Der Grund ist klar: Diese Elemente erzeugen beim Anbremsen große aerodynamische Stabilität, aber sie verschärfen das Dirty-Air-Problem so stark, dass Zweikämpfe zur Seltenheit werden. Künftig soll ein Motorrad wieder primär durch seine mechanische Balance stabil bleiben, nicht durch ein ganzes Arsenal an Luftleitflächen.

Doch die Aerodynamik ist nicht das einzige Opfer des neuen Regelwerks. Ein weiterer technischer Gigant fällt: die Ride-Height-Devices (Shapeshifters). Diese mechanischen Absenkvorrichtungen arbeiteten jahrelang Hand in Hand mit den Winglets, um den Schwerpunkt beim Beschleunigen tief zu halten und Wheelies physikalisch zu unterbinden. Ab 2027 sind sie verboten. Das bedeutet für die Piloten: Das Vorderrad muss wieder stärker mit Körperarbeit, Gasgriff und klassischer Mechanik am Boden gehalten werden.

Auch der gesamte Aerodynamik-Spielraum wird kleiner. Teams dürfen weniger unterschiedliche Aero-Pakete pro Saison homologieren, und die erlaubten Formen werden stärker reglementiert. Die MotoGP will damit verhindern, dass sich ein zweites Wettrüsten entwickelt, das für Hersteller unglaublich teuer und für Zuschauer immer schwerer nachvollziehbar wird. Die Tendenz geht klar in Richtung Vereinheitlichung: weniger Varianten, geringere Komplexität, mehr Fokus auf das sportliche Element.

Das Ziel dahinter ist eindeutig. Die Verantwortlichen wollen wieder mehr direkten Einfluss für die Fahrer, weniger Turbulenzen im Windschatten und mehr Mut zum Überholen. Wenn der Reifendruck nicht mehr sofort durch die Decke geht und die Motorräder im Dirty Air berechenbarer bleiben, wird das Rennen enger, chaotischer und spannender – genau das, was Fans seit Jahren einfordern.

Winglets verschwinden nicht, aber die extreme Phase, die wir jetzt erleben, wird so nicht weiterbestehen. Die „goldenen Jahre der Aero“ neigen sich ihrem Ende zu. Für dich als Zuschauer heißt das: In den kommenden Jahren bekommst du eine MotoGP, die wieder stärker auf fahrerisches Können setzt. Für die Teams bedeutet das hingegen eine komplette Neuausrichtung. Sie müssen viele ihrer Aero-Konzepte ablegen und sich auf ein Regelwerk einstellen, das weniger Freiheit, aber mehr sportliche Fairness verspricht.

Fazit: Fluch oder Segen?

Am Ende führt kein Weg daran vorbei: Winglets haben die MotoGP grundlegend verändert. Sie haben Motorräder schneller, stabiler und vorhersehbarer gemacht – und damit das Limit des Sports weiter nach oben verschoben. Gleichzeitig haben sie das Rennen komplizierter, taktischer und manchmal auch distanzierter wirken lassen. Weniger „Mann gegen Mann“, dafür mehr „Ingenieur gegen Luftströmung“. Du kannst diese Entwicklung beeindruckend finden oder kritisch betrachten, und beide Perspektiven sind berechtigt.

Was sicher ist: Winglets haben einen Bereich des Rennsports geöffnet, den es in dieser Konsequenz vorher nicht gab. Plötzlich spielen Luftdruckkarten, CFD-Simulationen und Downforce-Mappings eine Rolle, die früher ausschließlich im Automobilrennsport zuhause waren. Motorräder wurden zu fliegenden Laboren, und die Physik dahinter fasziniert – selbst dann, wenn du eigentlich nur die Rennen genießen willst und keine Lust hast, dir Strömungsdiagramme anzuschauen.

Doch gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach dem puren Duell. Nach Motorrädern, die im Windschatten eng aneinanderkleben können. Nach Zweikämpfen, die spontan entstehen, nicht durch Reifendruckwerte und Aero-Limits bestimmt werden. Genau diese Spannung wollen die Regelmacher ab 2027 zurückbringen.

Deshalb lohnt es sich, diese Winglet-Ära bewusst wahrzunehmen. Sie ist ein technologischer Höhepunkt, eine Phase, in der Ingenieure die physikalischen Grenzen der Zweiradwelt verschoben haben. Aber sie ist gleichzeitig ein Übergang. Viele der Konstruktionen, die du heute siehst, werden in wenigen Jahren Geschichte sein – reduziert, verschlankt oder komplett verboten.

Wenn du verstehen willst, wohin sich die MotoGP entwickelt, hilft es, genau jetzt hinzuschauen. Diese Maschinen, so zerklüftet und futuristisch sie wirken, markieren einen Wendepunkt. Genieße sie, solange es sie gibt – und sei gespannt darauf, wie der Sport aussieht, wenn die Macht der Aerodynamik wieder ein Stück weit zurückgefahren wird.

❓ Häufige Fragen zu Winglets & Aerodynamik in der MotoGP

Warum wurden Winglets überhaupt eingeführt?

Weil moderne MotoGP-Motorräder so viel Leistung haben, dass das Vorderrad beim Beschleunigen permanent steigen würde. Winglets erzeugen Anpressdruck, halten die Front stabil und ermöglichen volle Beschleunigung ohne starke Eingriffe der Elektronik.


Wie viel Anpressdruck erzeugen Winglets wirklich?

Je nach Konstruktion drücken sie bei Höchstgeschwindigkeit rund 50–60 kg auf die Front. Einige Aero-Pakete erzeugen sogar noch mehr. Dieser zusätzliche Druck verbessert Beschleunigung, Bremsstabilität und Grip in Schräglage.


Warum erschweren Winglets das Überholen?

Weil sie starke Luftverwirbelungen erzeugen. Der Hintermann gerät in Dirty Air, die Front wird unruhig, und der Vorderreifen überhitzt schneller. Das macht spätes Bremsen riskanter und reduziert die Chance auf ein sauberes Überholmanöver.


Sind Winglets gefährlich, wenn zwei Motorräder sich berühren?

Die Bauteile müssen laut Reglement bei Kontakt brechen, um Verletzungsrisiken zu minimieren. Trotzdem bleibt ein Restrisiko, denn Carbonkanten sind bei 300 km/h kritisch. Besonders in engen Startphasen kann das relevant werden.


Warum werden Winglets ab 2027 eingeschränkt?

Weil die Aerodynamik das Rennen stark beeinflusst: weniger Überholmanöver, mehr Dirty Air und mehr Abhängigkeit vom Reifendruck. Das neue Reglement soll wieder stärker die fahrerische Komponente in den Vordergrund rücken.


Verschwinden Winglets komplett aus der MotoGP?

Nein. Sie bleiben erlaubt, werden aber kleiner, einfacher und stärker reguliert. Extreme Heckfinnen, komplexe Multi-Wing-Strukturen und große Frontflächen werden ab 2027 stark eingeschränkt oder verboten.

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